Montag, 3. September 2012

Schienen

Was meine Frau und ich uns mit der beruflichen Belastung in den letzten Jahren angetan haben, merken wir erst jetzt, wo wir diverse Projekte abgeben und das Pensum - wegen meiner Erkrankung - rigoros zurückfahren. Plötzlich heilen meine Ekzeme. Plötzlich beisse ich mir nicht mehr die Fingernägel ab und plötzlich gibt es in meinem Kopf noch ganz andere Gedanken als nur Arbeit, Termine, Projekte und Problemlösungen. Plötzlich finden wir auch Zeit, wieder miteinander tiefe Gespräche zu führen und einander quasi neu kennenzulernen.

Meine Frau hat es symbolisch umschrieben: "Wir sind wie auf Schienen gefahren".

Es gilt nun, inne zu halten, nachzudenken und die Werte neu zu definieren.

Meine Überlegungen kamen zum vorläufigen Ergebnis, dass dies die drei höchsten Güter unserer Epoche sind:
  • Zeit haben
  • Platz für Aktivitäten
  • Ruhe zum Nachdenken

Mehr dazu an einem anderen Tag.


Was man sich selber antun kann, umschreibt auch Stefen Rieger sehr gut:
 
Selbstoptimierung bis zur Schizophrenie
 
Der Medienwissenschaftler Stefan Rieger schreibt in seinem neuen Buch über Multitasking. Für ihn ist klar: Wir müssen unbedingt weniger tun – und das auch noch langsamer.
Wie viele Sachen machen Sie gerade neben der Lektüre des Artikels? Wie viele Browser-Fenster haben Sie gerade offen? Betreiben Sie auch die ganze Zeit Multitasking, obwohl Sie eigentlich um dessen Fallstricke wissen?

Der Begriff Multitasking, zu Deutsch etwa «Mehrprozessbetrieb», stammt aus dem technischen Vokabular – und dort hätte er laut Stefan Rieger auch bleiben sollen. Der Philosoph und Professor für Mediengeschichte an der Universität Bochum untersucht in seinem neuen Buch «Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung» das Phänomen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive.

Der «polypersonale Schizo» als Leitbild

War Multitasking in den 90er-Jahren das grosse Ding bei Managern, hat es längst auch die Freizeit erfasst. Die Leute wollen sich gleichzeitig ausruhen, unterhalten und weiterbilden. Nur abschalten kann der moderne Mensch nicht mehr. Dazu trägt auch das Smartphone bei, dieses Büro in der Hosentasche als steter Begleiter.

Riegers Diagnose ist verheerend: «Der neue, der polypersonale Schizo ist ihr positives Leitbild.» Das klingt nicht nur gefährlich, sondern ist es auch. Durch den dauernden Druck werden Persönlichkeitsstörungen gefördert, wie die Neurowissenschaft gezeigt hat. Das menschliche Gehirn sei ein Flaschenhals, der sich nicht beliebig erweitern lässt; mehrere Sachen gleichzeitig gehen da einfach nicht durch. Der Autor fordert zum Schluss Entschleunigung: «Tun wir fortan also weniger – und tun wir es vor allem langsam.»

«Multitasking vermanscht das Gehirn»

Rieger ist ja beileibe nicht der Erste, der Entschleunigung fordert. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat in seinem Buch «Payback» über die Gefahren des Internets geschrieben und sagte vor einem Jahr im Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «Multitasking vermanscht das Gehirn. Es findet eine Veränderung im Hippocampus statt, durch die Reizüberflutung des Multitasking wird die Gedächtnisstruktur beschädigt. Für Computer ist es genial, wenn sie Dinge gleichzeitig tun. Wir Menschen können das nicht, wir sind lineare Wesen.»

In eine ähnliche Richtung gehen Vermutungen zum Zusammenhang mit dem vermehrten Auftreten von ADHS. Die ganze Gesellschaft scheint an einem Aufmerksamkeitsdefizit zu leiden und sowieso nur an Bildschirmen halbwegs arbeiten zu können. Verunmöglicht das dauernde «audiovisuelle Störfeuer», wie es der Philosoph Christoph Türcke in seinem Buch «Hyperaktiv!» beschreibt, anderes Arbeiten als Multitasking? Ist ungeteilte Aufmerksamkeit ein gefährdetes Gut?

Offensichtlich schon, denn obwohl man um die Gefahren weiss, wird Multitasking nicht konsequent bekämpft. Viele Leute kommen nicht heraus aus dem Teufelskreis von Effizienzsteigerung und Selbstoptimierung. Stefan Rieger meint dazu, man müsse sich verweigern und einfach aussteigen. Und insgesamt weniger tun, und das auch langsam.

Tagesanzeiger.ch/Newsnet am 9.08.2012

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